Vergeben und festhalten
Ein blogartikel von Joyce Cordus
Seit zwei Jahren arbeite ich mit Frits Koster zum Thema Vergebungsbereitschaft zusammen. Unsere Zusammenarbeit begann aus Neugier und Engagement, doch die aktuelle Lage verleiht ihr eine zusätzliche Bedeutung. Gerade jetzt, angesichts der anhaltenden Gewalt in Gaza, spüre ich, dass die Frage, was Vergebung bedeutet und wann sie möglich ist, dringlicher denn je ist.
Das Wort „vergeben” hat offenbar eine lange Geschichte. Im Urgermanischen stand „fur-” für „weg” und „gebaną” für „geben”: „weggeben”, „preisgeben”. Früher bedeutete „vergeben” also wörtlich, etwas aus der Hand zu geben – Land, Besitz oder ein Recht. Eine Spur dieser alten Bedeutung finden wir noch immer in Sätzen wie „Dieses Exemplar ist bereits vergeben”. Damit meinen wir: Es wurde bereits weggegeben, jemand anderem zugewiesen.
Erst Jahrhunderte später erhielt „vergeben” seine innere Bedeutung: eine Schuld erlassen, Groll loslassen. Diese Verschiebung vom Materiellen hin zu einem inneren Prozess zeigt, dass es beim Vergeben im Kern darum geht, loszulassen. Doch nicht jede Situation eignet sich dafür. Manchmal verlangt die Realität geradezu, dass man festhält: an Würde, an Wahrheit, an Gerechtigkeit.
Die Spannung zwischen Loslassen und Festhalten
In moralischer Hinsicht wirft Vergebung immer die Frage auf: Was lässt man los und was hält man fest? Mit dieser Spannung haben sich Philosophen und Ethiker oft beschäftigt. Hannah Arendt schrieb, dass Vergebung nur denkbar ist, wenn die Wahrheit anerkannt wird und der Täter Verantwortung übernimmt. Ohne diese Voraussetzungen wird Vergebung nicht zu einer moralischen Geste, sondern zu einer Form der Verleugnung. Taten wie beispielsweise Völkermord bezeichnet sie als „unverzeihlich” – nicht aus Rache, sondern weil sie das menschliche Maß an Vergebung überschreiten.
Wo Vergebung ins Stocken gerät
Auf dem oben gezeigten Foto, das in Gaza aufgenommen und von Middle East Eye veröffentlicht wurde, sehen wir eine trauernde Frau – ein Bild, das für Verlust, Festhalten und Sehnsucht nach Anerkennung steht.
In Gaza weigern sich Israel und seine Verbündeten – darunter die Vereinigten Staaten und viele westliche Regierungen –, die Wahrheit anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Die Taten werden nicht nur geleugnet, sondern manchmal sogar gerechtfertigt. Keine Mutter kann denen vergeben, die ihr das angetan haben – schon gar nicht, solange die Gewalt andauert.
Für sie ist Loslassen unmöglich, sie kann nur festhalten: an ihrem Kind, an Erinnerungen, an ihrer Würde und an der Hoffnung, dass die Welt zusieht. Unter solchen Umständen ist Vergebung nicht die erste Antwort. Zunächst einmal braucht es Schutz, Gerechtigkeit und Wahrheit. Erst wenn diese gewährleistet sind, kann sich vielleicht die Möglichkeit der Vergebung bieten.
Der moralische Mut zum Festhalten
Wenn Vergebung im Kern „Loslassen” bedeutet, ist es vielleicht verlockend zu denken, dass Loslassen immer das höchste Gut ist. Aber moralischer Mut bedeutet manchmal, dass man nicht loslässt: seine Stimme, sein Recht auf Gerechtigkeit, seine Treue zur Wahrheit, seine Mitmenschlichkeit.
Wie Hannah Arendt betonte, erfordert moralischer Mut, in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, die Wahrheit auszusprechen, wenn sie geleugnet wird, und Verantwortung zu übernehmen – auch wenn dies gefährlich oder unpopulär ist. Es ist der Mut, sich nicht Lügen zu beugen, nicht zu schweigen, wenn dies von einem erwartet wird, und seinem eigenen Urteil treu zu bleiben, auch wenn man damit gegen den Strom schwimmt.
In Zeiten von Krieg, Unterdrückung oder systemischer Ungerechtigkeit – wie derzeit in Gaza – ist diese Entscheidung keine Sturheit, sondern Klarheit. Festhalten ist dann keine Weigerung zu vergeben, sondern ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden.
Joyce Cordus, 22. September 2025